Ute Richter Bildende Künstlerin – 1964 geboren.
Arbeitet als Künstlerin interdisziplinär mit Installation, Video, urbaner Intervention und Zeichnung. Ihre künstlerischen Recherchen entwickelt sie im Kontext von Alltag, Architektur, urbanem Raum und Erinnerung.
Ihr Werk umfasst ortsspezifische Installationen im öffentlichen Raum. Die künstlerische Arbeit begreift Ute Richter als gesellschaftliches Handeln.
Von 1986–1991 studierte sie an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Von 1992–1998 lebte sie in Paris, ab 1999 in Berlin und seit 2005 lebt sie in Leipzig.
Ihr Bildband Claim erschien 2011 im Verbrecher Verlag Berlin. Die Zeitung Der 15. Januar 1919 war ein Mittwoch, die Poster mit Pflanzenmotiven aus dem Herbarium von Rosa Luxemburg enthält, erschien 2017 im Lubok Verlag Leipzig.
E-Mail: uterichter [at] posteo.de
Telefon: +49 - (0)341 - 92 61 407
Konkret 10/2019, S.55–57
Beim Shoppen fängt die Ödnis an
Interview mit der Leipziger Künstlerin Ute Richter über Kunst, Kommerz und rechten Terror im öffentlichen Raum in Ostdeutschland seit der „Wende“
Interview von Radek Krolczyk
konkret: Gibt es einen typischen Entwicklungsverlauf ostdeutscher Städte von der Wende bis heute?
Ute Richter: Es gibt ein deutliches Gefälle zwischen Stadt und Land. Leipzig verändert sich durch wechselnde Eigentümer nach wie vor. In den letzten Jahren schossen hier Häuser im hohen Preissegment wie Pilze aus dem frisch erworbenen Boden. Den groß geförderten Abriss der Neubaublöcke, den das Programm Stadtumbau Ost finanzierte, hat Leipzig offensichtlich eingestellt. In kleineren sächsischen Städten wird aber immer noch abgerissen, um „den Wohnungsmarkt weiter zu regulieren“.
In der Innenstadt geht es heute nur noch um Shoppen und Tourismus. In den Wohnvierteln parken hilflose Paketlieferant*innen die Radwege zu. Stinkende Oldtimer-Dieselbusse fahren stündlich in Schrittgeschwindigkeit durch die Wohnstraßen von Leipzig-Schleußig, weil es da so schöne Wasserläufe zum Bötchenfahren und alte Industrieanlagen zum Besichtigen gibt, die aber inzwischen alle zu Eigentumswohnungen umgebaut wurden.
Was ist spezifisch an der Gentrifizierung im Osten?
Durch die plötzliche Privatisierung des Staatseigentums entstanden zunächst Freiräume. Es folgte eine krasse Umverteilung von Besitz. Stück für Stück verschwinden die letzten verfallenen Kasernen und Fabriken, umgebaut zu schicken Wohnkomplexen mit Eigentumswohnungen, aus dem Stadtbild. Hier wird noch kräftig akkumuliert.
Berlin ist international so interessant geworden, weil es diese Freiräume hatte. Die Brache hat oft größeres Potenzial als das neu bebaute Areal. Da hat die Utopie den Ort schon verlassen, und der Quadratmeterpreis bestimmt die Regeln.
Durch Zwischennutzungen in den Lücken der „perforierten“ Stadtteile entstand in Leipzig eine große Vielfalt. Das kam durch den Zuzug von Kreativen, die dort mit sehr wenig Geld und maximaler Selbstausbeutung lange überleben konnten.
Was ist aus den Wächterhäusern in Leipzig geworden, leerstehenden Immobilien, die gegen Instandhaltung vorübergehend bezogen werden konnten?
Die Wächterhäuser gelten als Erfolgsmodell zur Erschließung maroder Stadtteile. Die Zwischennutzung der unbeheizten Wohnungen durch Künstler*innen dauerte jeweils etwa fünf Jahre. Soweit mir bekannt ist, wurden die Häuser danach verkauft. Im Stadtteil Lindenau gibt es keine Wächterhäuser mehr. Das größte Problem der Stadtverwaltung ist dort das „öffentliche Trinken“ auf dem Marktplatz. Die Bänke dort werden bestimmt bald abgeschraubt.
Kunst spielt bei Gentrifizierungsprozessen oft eine Rolle. Erst machen Künstler*innen den Stadtteil hip, dann müssen sie als dauerhaft prekär Lebende daraus verschwinden.
Für die verlorengegangenen Ateliers bietet die Stadt manchmal Ausweichorte zur Zwischennutzung an. Über die Jahre wurde das immer verrückter. In Leipzig-Gohlis gibt es ein gruseliges leerstehendes Autohaus, dessen Besitzer seit über zehn Jahren nach Mietern sucht. Die Stadt hat mit ihm einen 12-Jahresvertrag als Asylunterkunft abgeschlossen. Die wird nicht mehr gebraucht, weshalb die Stadt es nun Künstler*innen als Atelierhaus zur Miete anbietet.
Seit den späten neunziger Jahren ist die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums immer wieder Thema deiner Arbeit. In Leipzig, Cottbus, aber auch auf dem Land in Mecklenburg hast du Werbefahnen, Reklametafeln und Leuchtschrift platziert.
Die Orte meiner Installationen waren immer durch die Kunst geschaffene temporäre Freiräume, um gesellschaftliche Veränderung zu reflektieren. Meine Arbeiten nahmen die kommerzielle Überformung der Landschaft in den neunziger Jahren auf. Es kam mir auf Irritationen an: Entsteht da das neue Einkaufszentrum für Gartengeräte, oder ist das noch das alte Fußballvereinsheim? Ich verwendete bekannte Zeichen und verschob sie an andere Orte. Beispielsweise habe ich ein H&M-Logo an die Wand des verfallenen Dieskraftwerks in Cottbus geschraubt, um so den Ort für ein zukünftiges Museum zu markieren. Mit einer Fahne mit der Aufschrift „Anbieter“ im Getreidefeld provozierte ich Fragen: Kommt da das neue Autohaus hin oder ein Baumarkt? Wer erschließt hier eigentlich was?
Wie steht es heute um Kunst im öffentlichen Raum?
Neue Kunst ist im Stadtraum selten geworden. Seit Mitte der nuller Jahre hat sich in Leipzig nicht viel getan. Es hängt von den jeweiligen Kulturämtern ab und ihrem Verständnis von „Kunst im öffentlichen Raum“. In Dresden gab es einige kämpferische Positionen. Ich mag temporäre Interventionen in der Stadt, die vorübergehend den Ort verändern und nachwirken, wenn sie verschwinden.
Kunst am Bau finde ich schwierig. In Jurys müssen sich Nutzer, Architektinnen und Stadträte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Das Resultat ist oft harmloser Raumschmuck, weit entfernt von kritischer künstlerischer Arbeit. Ich halte Kunst für nicht konsensfähig. Sie bedarf keiner Einigung.
Das Marktsegment Kunst am Bau steuert hier der Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB). Einige Künstler*innen haben sich auf dieses Genre spezialisiert und verdienen damit ihren Lebensunterhalt.
Das „Tortendiagramm“ von der Gruppe Realities:united hätte ich gerne in Leipzig auf dem Leuschnerplatz gesehen, einer städtebaulichen Brache. Es wurde bei einer Ausschreibung für ein Wende-Denkmal prämiert, der Bund hatte fünf Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt. Der Entwurf sah vor, dass der Bodenbelag dort von Jahr zu Jahr umgestrichen wird, um als Diagramm politische Kräfteverhältnisse darzustellen. Kritisiert wurde, dass es damit auch Neonazis abbilden würde, aktuell würde ganz viel blaue Farbe benötigt werden.
Der Oberbürgermeister fürchtete, Wähler zu verlieren, wenn er sich für die Umsetzung eines der Preisträgerentwürfe eingesetzt hätte. Die Energie des Wettbewerbes von 2012 versickerte so im Leipziger Rathaus.
Was hätte ein solches Denkmal zeigen können?
Es hätte möglicherweise den Mythos einer unschuldigen, friedlichen Revolution entlarvt. Ich meine, der AfD schon im Dezember 1989 begegnet zu sein. Am Tag der Wahlkundgebung von Helmut Kohl in Dresden war ich beim Blick aus dem Atelierfenster der Kunsthochschule über die vielen Deutschland-Fahnen entsetzt, die mittags auf den Trümmern der Frauenkirche auftauchten. Als wir am Abend zu dritt mit einem selbstgemalten bunten Transparent protestierend durch die Menschenmassen liefen, stießen wir auf latente Gewalt und Aggression. Wir konnten nicht stehenbleiben, das war zu gefährlich. Wir wurden als Kinder der roten Socken beschimpft, die wir damals gar nicht waren. Ich frage mich heute, was die westdeutschen Linken 1990 beim Anblick der Massen neuer CDU-Wähler dachten. Ich wäre an dieser Situation verzweifelt.
Wie ist es den Kunstwerken der DDR im öffentlichen Raum ergangen?
Die stehen größtenteils noch in den Städten:
Bronzesplastiken, Liebespaare, junge Familien und
Sportler, oft überlebensgroß und höher gesockelt. Bei Umsetzungen schiebt man sie aber gern auf Grünflächen ab. Manche landen im Depot wie die Plastik „Mütter mit Kindern“, die ich 2004 beim Zeichnen mit Architekturstudierenden im Lapidarium in Dresden entdeckte. Sie wurde Anfang der siebziger Jahre für die „Touristengärten“ der Prager Straße in Dresden geschaffen. Um sie zu reaktivieren, schickte ich die Skulptur 2007 auf „Familienbesuch“ nach Berlin, zum 50. Geburtstag des Hansaviertels. Die „Mütter mit Kindern“ unternahmen so eine Reise vom zeitverzögert entwickelten Modell einer sozialistischen Moderne, der Prager Straße in Dresden, zum Nachkriegsmodell einer modernen Stadt, dem Westberliner Hansaviertel. Die Plastik müsste heute eigentlich in einer Reihenhaussiedlungen am Stadtrand stehen, gleich neben dem Einkaufszentrum, vor dem SUVs parken. Das wäre eine interessante Aktualisierung des Familienbilds.
Welche Rolle spielte das Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz bei der Inszenierung der Nazi-Proteste im vergangenen Jahr? Warum eignete es sich überhaupt als Kulisse? Welchen Wandel hat es seit der Wende in seiner Bedeutung durchgemacht?
Der riesige Marx-Kopf ist die perfekte Kulisse für solche Inszenierungen. Die rechte Szene eignet sich auf diese Weise linke Symbole an. Die Dramatikerin Enis Maci hat in ihrem Essayband Eiscafé Europa eine sehr gute Recherche zu solchen Techniken vorgelegt. Sie schreibt darin über die Selbstdarstellung identitärer Alphaweibchen in Internetforen. Besonders der Essay über Schminktechnik hat mich fasziniert: „To blend in“ bezeichnet das Verwischen zwischen scharfen Hell- und Dunkelkontrasten, das die Konturen des eigenen Gesichtes umformen kann. Das sind Techniken des Theaters oder der Travestie. Frauke Petry verwendete für ihre Neujahrsansprache 2017 Bertolt Brechts „Kinderhymne“.
Ist die Ödnis der Städte eine Grundlage für den rechten Terror der Straße? Wobei man bei Ödnis eher an Kleinstädte und Dörfer denkt, aber Dresden und Chemnitz sind die Hochburgen der Rechten.
Das ist die Perspektive von uns Städter*innen, der Blick der Durchfahrenden. Ich verorte die Ödnis eher im gesellschaftlichen oder emotionalen Bereich. Die Innenstädte sind zum Shoppen da, und da fängt die Ödnis schließlich an. Ödnis prägt die gegenwärtige gesellschaftliche Stellenbeschreibung des Menschen als Konsument. Das ist die Crux, dieser hemmungslose Kreislauf der Warenproduktion, der durch ständigen Konsum aufrechterhalten werden muss. Zeit für Bildung, Entspannung, zum Nichtstun bleibt wenig.
Grundlagen für den rechten Terror sind das Trainieren von Gewalt, gute Organisation, breite Vernetzung, mangelnde Demokratie und straffreier Ausgang der Täter. Die Ödnis ist eine gesellschaftliche. Sie resultiert aus nationalen und patriarchalen Strukturen, der einseitigen Anhäufung von Reichtum, sozialer Ungleicheit, Gier, Geiz, Hass und Hetze.
Der Schwiegervater von „König Kurt“ (Biedenkopf), dem ehemaligen sächsischen „Landesvater“, war ein Nazi der ersten Stunde. Er hat sein riesiges industrielles Vermögen durch die Aneignung jüdischen Besitzes erlangt. Je weiter die Wehrmacht vordrang, desto mehr Industrieanlagen eignete er sich an – rechtens natürlich, per Kaufvertrag. Seine Erfolgsgeschichte begann in den dreißiger Jahren in Leipzig mit der „Übernahme“ einer Gummiwarenfabrik, die Kondome zum Schutz deutscher Soldaten herstellte. Diese Geschichte war 2009 für mich der Ausgangspunkt für eine Wandmalerei in der Ausstellung „Amnesie“ im Kunstverein Leipzig.
Was war das für ein Bild?
Meine Arbeit „Aneignungen“ ist eine große farbige Fläche in der Form eines verblichenen, gelochten Aktenblattes mit ausreichend Platz für Briefkopf, Betreff und Text. Auf solchen Papieren hat man im Oktober 1944 Patentstreitigkeiten verhandelt. Da stand etwa wörtlich zu lesen: „Also warten wir doch in Ruhe den Krieg ab. Ich denke, wir haben jetzt andere Sorgen. Mit deutschem Gruß, Rauch“. Ich habe aber keinen Text verwendet, sondern lediglich den Stempel der Gummiwarenfabrik vom Briefkopf ins Blattzentrum gerückt und vergrößert, also das Gebäude selbst zum Inhalt des Schreibens gemacht. Der Stolz der Fabrikbesitzer wurde um die Jahrhundertwende oft durch ein hübsches Bildchen der Fabrik mit rauchendem Schornstein oben rechts im Briefkopf ausgedrückt. Die „Aneignung“ der vorher in jüdischem Besitz befindlichen Industrieanlage habe ich so symbolisch zum Thema gemacht.
Die „Aneignungen“ sollten nicht in der Ost-West-Falle stecken, ich wollte sie nicht in die neunziger Jahre, in die Treuhandgeschichte packen, sondern in das Milliardengeschäft der deutschen Industrie im Zweiten Weltkrieg verlagern. Die Gewinne von damals sind heute Grundlage des Reichtums in Deutschland. Das faschistische Deutschland hatte in den vierziger Jahren schon eine Art Treuhandstelle Ost.
Ute Richter: Der 15. Januar 1919 war ein Mittwoch. Mit Texten von Dietmar Dath und Britt Schlehahn. Lubok, Leipzig 2017, 32 Seiten, 10 Euro
Ute Richter: Claim. Mit einem Essay von Georg Seeßlen. Verbrecher Verlag, Berlin 2011, 140 Seiten, 24 Euro